Nebenwirkungen von Achtsamkeit, Meditation bzw. Retreats

Ruth Baer und Willem Kuyken (2016) beleuchten auf der Seite des “Oxfort Mindfulness Centre” sehr differenziert die Frage “Is minfulness safe?” In einem ersten Schritt vergleichen sie Achtsamkeitstrainings mit körperlichem Training und klären Begriffe wie Benefits, Risiken, Schaden, ernste Nebenwirkungen und unangenehme Erfahrungen. Bezüglich Achtsamkeit gibt es eine Unzahl von Studien, die Benefits von entsprechenden Trainings nachweisen. Die Forschung bezüglich Nebenwirkungen steckt noch in den Kinderschuhen. In Studien  mit klar definierten Populationen von Klienten und gut ausgebildeten Trainern gibt es bis jetzt keine Hinweise auf schädliche Wirkungen. Die Frage, ob eine Achtsamkeitspraxis zu nachhaltigen Verschlechterungen führen kann wurde allerdings bis jetzt noch nicht systematisch untersucht, sie habe jedoch durchaus Priorität für zukünftige Forschung.

Baer und Kuyken unterscheiden drei Faktoren, die zur Sicherheit beitragen können, Achtsamkeit zu lernen und zu lehren.

  1. Die Intensität der Praxis: Diese reicht von niedrig (kurze Übungen mit Apps oder aus Selbsthilfebüchern) über moderat (40 Minuten pro Tag etwa im Rahmen von MBSR- oder MBCT-Kursen) bis zu intensiv (etwa im Rahmen von Retreats viele Stunden am Tag über mehrere Tage bis Wochen, s.u.).
  2. Die Vulnerabilität der Person (z.B. psychiatrische Vorerkrankungen wie Psychosen, s.u.).
  3. Die Qualität der Anleitung (Ausbildung der Instuktoren).

Die Autoren betonen abschließend drei Punkte:

  1. Achtsamkeit dient nicht primär dazu, Zustände der Glückseligkeit hervorzurufen. Achtsamkeit zielt darauf ab, sich allen Erfahrungen zuzuwenden, seien sie angenehm, neutral oder auch unangenehm. Die ist die Voraussetzung zu üben, bewusst zu wählen.
  2. Achtsamkeit ist kein Allheilmittel. Sie ist nicht der einzige Weg zur Stressreduktion, zur Besserung von Symptomen oder zu Wohlbefinden. Er ist auch nicht für jeden Menschen geeignet. Es ist daher sinnvoll, das zu wählen, was individuell passt, seien es ein Fitnesstraining, Sport, Yoga, Psychotherapie oder eben Achtsamkeitstrainings.
  3. Achtsamkeit beruht auf Erfahrungswissen. So ist es empfehlenswert, die Übungen in einer experimentellen und offenen Haltung duchzuführen und sich von der Evidenz leiten zu lassen, indem man eine individuell als hilfreich und heilsam erlebte Praxis fortsetzt und unheilsames unterlässt.

In den letzten Jahren führte eine Arbeitsgruppe an der Brown University um Willoughby Britton halbstrukturierte Interviews mit mehr als 60 Praktizierenden Buddhistischer Meditationsformen und mit über 30 Meditationsexperten durch, um die Vielfalt der Erfahrungen im Rahmen unterschiedlicher Formen der kontemplativen Praxis zu erheben.

Ältere Beschreibungen von “Nebenwirkungen”

Häufig zitierte ältere Beschreibungen von „Nebenwirkungen“ von Achtsamkeitstrainings beziehen sich meist nicht auf die in der Psychotherapie üblichen Anwendungen von Achtsamkeit, sondern meist auf längere Intensivphasen von Meditation im Rahmen von Retreats (Shapiro 1992). Einige Studien betreffen Auswirkungen der in den USA weit verbreiteten Praxis der Transzendentalen Meditation, bei der auf ein Mantra fokussiert wird (French 1975, Castillo 1999, Lazarus 1976). Die meisten Studien sind Einzelfallanalysen, was auf die Seltenheit von “Nebenwirkungen” hinweist. Die Frage ist auch, wie bestimmte Erfahrungen bewertet werden, ob beispielsweise das Phänomen der Depersonalisation (sich selbst als verändert zu erleben) als krankhaft und als Vorzeichen des Verrückt-Werdens gedeutet wird oder man sie als normales, “gutes” Zeichen einer fortschreitenden Entwicklung der Fähigkeit zur meditativen Versenkung versteht.

Roger Walsh (1979) begegnete im Rahmen seiner umfassenden Erfahrungen mit mehreren Tausend Menschen, die intensive Meditationstrainings absolvierten, zwei jungen Frauen und einem Mann, die psychotisch entgleisten. Walsh meint, dass die intensive Meditation (bis zu 18 Stunden am Tag), die fehlende Kommunikation mit anderen Menschen, das Fasten, der Schlafmangel, eine Vorgeschichte von Schizophrenie und das Absetzen der antipsychotischen Medikation massive Stressfaktoren seien, die einen (erneuten) psychotischen Schub auslösen können.

Die Sorge, dass Achtsamkeit zu einer psychischen Dekompensation führen kann, wird von Bohus und Wolf entkräftet: Sie betonen, dass sie bei ihren über 500 mit der DBT behandelten Borderline-Patientinnen während oder nach Achtsamkeitsübungen noch nie eine psychotische Entgleisung beobachtet hätten (2009, S. 85).

Auf der anderen Seite mehren sich die Hinweise, dass Achtsamkeit – angemessen angewendet – bei Menschen mit Psychosen durchaus heilsame Wirkungen entfalten kann.

In Anlehnung an Lustyk et al 2009 können psychische, körperliche und spirituelle Nebenwirkungen unterschieden werden.

Psychische Nebenwirkungen

Zustände von Depersonalisation und Derealisation (Castillo 1999; Kennedy 1976); Symptome einer Psychose wie Halluzinationen, Verfolgungsangst, Desorientiertheit; Appetitmangel, Schlaflosigkeit, Größenwahn, religiöse Wahnvorstellungen (Chan-Ob & Boonyanaruthee 1999; VanderKooi 1997); Stimmungsschwankungen und Gefühle von Angst, Dysphorie, Einsamkeit oder Euphorie und Grandiosität (French 1975 in einer Einzelfallstudie; Kennedy 1976; Lazarus 1976); Maniforme Symptomatik im Sinne von Redefluss, Hyperaktivität, Ruhelosigkeit, Abklenkbarkeit (Yorston 2001 in einem Einzelfall); Spannungszustände, Unruhe, Agitiertheit, Schlaflosigkeit, sexuelle Enthemmung (Lazarus 1976); Langeweile, Lebensüberdruss, Negativität, Selbstabwertung, “Abhängigkeit” von der Meditation (Shapiro 1992)

The Dark Night of the Soul

Der Begriff der “dunklen Nacht der Seele ” stammt vom christlichen Mystiker Johannes vom Kreuz (1542-1591). Er wird aber auch zur Beschreibung einer Vielzahl von meditationsbezogenen Schwierigkeiten gebraucht.

Körperliche “Nebenwirkungen”

Schmerzen beim langen Sitzen, insbesondere in den Gelenken (Shapiro 1992), fokale EEG-Veränderungen (Persinger 1993)

Religiös, spirituelle “Nebenwirkungen”

Innere und äußere Konflikte können sich ergeben, wenn Vorstellungen vorherrschen, dass eine meditative Praxis, die ihre Wurzeln in buddhistischen Traditionen hat, mit den Regeln der persönlichen Religion nicht vereinbar sei. Intensive Erfahrungen in der Meditation können bisherige Glaubenssysteme in Frage stellen.

Weiterführende Literatur

Übersicht: Achtsamkeit in der Psychotherapie – Wirkung, Wirkmechanismen, Nebenwirkungen bzw. Forschungskriterien

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Psychotische Symptomatik, Meditation und Achtsamkeit

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Maniforme Symptome nach Meditation

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Depersonalisation

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Verschiedene Symptome

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EEG-Veränderungen

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Transzendentale Meditation

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Psychiatrische Komplikationen

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Umgang mit schwierigen Erfahrungen

  • Galuska (2003) Religiöse und spirituelle Störungen [Text download]
  • Berzin (2002) Avoiding Difficulties in Meditation and Retreat [article view]
  • Trungpa C (2002) Cutting through spiritual materialism. Boston: Shambala
  • Belschner W, Galuska J (1999) Empirie spiritueller Krisen [Studie download]
  • VanderKooi L (1997) Buddhist teacher´s experience with extreme mental states in western Meditators.  The Journal of Transpersonal Psychology; 29(1): 31-46 [article view]
  • Kornfield J (1979) Intensive insight meditation: A phenomenological study. Journal of Transpersonal Psychology 1979; 11(1):41–58 [pdf-download]

Netzwerk für spirituelle Entwicklung und Krisenbegleitung (Spiritual Emergence Network)

Im Rahmen von Trainings First, Do No Harm” Meditation Safety Trainings” wurde eine “MEDITATION SAFETY TOOLBOX” entwickelt und zum dowload zur Verfügung gestellt. Sie enthält umfangreiches Material zum Thema.

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