Achtsames Essen: Die sieben Arten von Hunger

Eine Möglichkeit, Dankbarkeit zu kultivieren, ist achtsames Essen. Wir können dankbar sein, wenn wir genug zu Essen haben, etwas, was in vielen Teilen unserer Erde keineswegs selbstverständlich ist. Wir können auch „tief in die Nahrung hineinsehen“:

„Jemand der Achtsamkeit praktiziert, vermag Dinge in einer Mandarine zu sehen, die andere nicht sehen können. Eine bewusste Person sieht den Mandarinenbaum, die Mandarinenblüten im Frühling, das Sonnenlicht und den Regen, die den Baum genährt haben. Schaut man tief in die Dinge hinein, dann vermag man zehntausend Dinge zu sehen, die die Mandarine möglich gemacht haben… Und wie alle Dinge miteinander in Wechselwirkung stehen.“[1]

Man kann bei der Betrachtung dessen, was wir zu uns nehmen, den Fokus Dankbarkeit wählen. Dazu kann man sich in Erinnerung rufen, welche Menschen dazu beigetragen haben, dass ein bestimmtes Nahrungsmittel auf unseren Tisch gekommen ist. Man kann sich überlegen, wie viele Menschen unmittelbar daran beteiligt waren, dass aus dem ausgesäten Weizenkorn ein Frühstücksbrötchen wurde. Wenn man die Personen mit einschließt, die zur Herstellung der dazu notwendigen Maschinen und zum Transport beigetragen haben oder gar jene, auf die wiederum diese angewiesen waren, entsteht ein weitverzweigtes Netzwerk von “Aka-Fäden”, so wie es auch die hawaiianischen Schamanen, die Kahunas, beschreiben, das die universelle Verbundenheit der Menschen deutlich macht.

Essen als menschliches Grundbedürfnis wird in unserer westlichen Welt manchmal auf heilsame, sehr oft aber auch auf unheilsame Weise erfüllt. Gesundheitsfördernd wäre es, darauf zu achten, was und vor auch allem darauf, wie man isst. Indem man sich selbst dabei beobachtet, kann man sich nicht nur schützen, sondern auch Einsichten über den eigenen Umgang mit Verlangen und Sättigung gewinnen.

So kann man bemerken, was es genau ist, was uns dazu bringt, Nahrung aufzunehmen und was uns nährt. Die meisten Menschen erzählen, dass sie essen, weil sie hungrig sind. Wenn man nachfragt, woran sie genau bemerken, dass sie hungrig sind, reagieren sie meist verwirrt. Einer der Gründe für diese Verwirrung liegt darin, dass man zumindest sieben Arten von Hunger unterscheiden kann: [2]

Die sieben Arten von Hunger

Eine Art von Hunger – Augenhunger (eye hunger) – wird durch den Anblick von Speisen hervorgerufen. Man braucht nur an Werbespots im Fernsehen zu denken, bei denen uns das Wasser im Mund zusammen läuft. Augenhunger wird durch Schönheit gesättigt, so genießt etwa in Japan die Kunst der ästhetischen Zubereitung von Mahlzeiten besonders hohes Ansehen.

Nasenhunger (nose hunger) wird durch den Geruchssinn erzeugt, etwa durch den morgendlichen Geruch einer Backstube, nach Kaffee oder beim Grillen. Eine ritualisierte Form, ihn zu sättigen, ist das Anzünden von Räucherstäbchen, deren Duft in manchen Traditionen als Nahrung für die Ahnen gilt.

Mundhunger (mouth hunger) wird durch den Geschmack einer Speise ausgelöst, etwa durch die zarte Süße einer Mousse au Chocolat, die sich schmelzend im Mund ausbreitet.

Magenhunger (stomach hunger) wird von vielen Menschen als Leeregefühl im Bauch wahrgenommen. Bei anderen wird es eng in der Magengegend, oft knurrt der Magen. Diese Art von Hunger hat den evolutionären Vorteil, dass er uns an die überlebensnotwendige Nahrungsaufnahme erinnert. Sättigung erfolgt durch die Aufnahme der richtigen Menge von Nahrung.

Viele Menschen essen, um ein Loch zu füllen, nicht im Magen, sondern in der Herzgegend: Wir essen wenn wir einsam sind, Liebeskummer haben oder treffen uns, wenn jemand gestorben ist, zum Leichenschmaus. Liebe geht durch den Magen, d.h. wir fühlen uns geliebt, wenn uns jemand eine wohlschmeckende Speise zubereitet. Bestimmte Speisen führen auch zu angenehmen Zuständen, indem sie Erinnerungen auslösen. Im Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ rief der Geschmack einer in Tee getunkten Madleine beim Erzähler [3] Glücksgefühle hervor, die mit Erinnerungen an seine Lindenblütentee trinkende Tante verknüpft waren. Diesem Herzhunger (heart hunger) kommt man durch die Frage auf die Spur, was man gefühlt hat, unmittelbar bevor der Impuls aufgetaucht ist, einen Snack einzunehmen. Oft sind es Langeweile, Enttäuschung, Ungeduld, Ärger, Angst oder Verwirrung. Der Herzhunger wird zumeinst durch liebevolle Nähe gesättigt.

Gedankenhunger (mind hunger) meldet sich in Sätzen, die mit „Du solltest“ beginnen. Du solltest fünf Stück Obst pro Tag, insgesamt weniger essen, gesünder esser, zweieinhalb Liter Flüssigkeit tringen etc. Er teilt die Nahrungsmittel in gesunde und schädliche bzw. gute und böse ein. Bei den rasch wechselnden Positionen des Geistes ist es fraglich, ob diese Art von Hunger überhaupt befriedigt werden kann.

Zellulärer Hunger (cellular hunger) ist jener Hunger, der dafür sorgt, dass man dem Körper jene Substanzen zuführt, die seine Zellen für ihr physiologisches Gleichgewicht benötigen. Etwas in uns weiß, ob er Flüssigkeit, Energie oder bestimmte Substanzen braucht. Ist uns nach Salzigem oder Süßem, geht es um das Anlegen eines Energiedepots und einer Isolationsschicht für die kalte Winterzeit, fehlen während der Schwangerschaft vielleicht besondere Spurenelemente, ein spezifischer Heißhunger kann darauf hinweisen. Um entsprechend reagieren zu können, lernt auch der Diabetiker, zwischen Unterzucker und zu hohem Blutzucker zu unterscheiden.

Wenn man sich die Frage stellt, wer d.h. welcher Persönlichkeitsanteil in mir was will, wer in mir hungrig ist, begegnet man vielleicht einem Anteil, der darauf bedacht ist, immer etwas Essbares dabei zu haben, um für den Fall der Fälle gewappnet zu sein. Ist er in Angst und Panik, einmal nicht genug zu essen zu bekommen? Hat er Beschützerfunktion, indem er das Auftreten eines anderen Teils verhindert, der sich innerlich hohl und leer fühlt? Oder ist es einfach ein Genießer in mir, der es liebt, verwöhnt zu werden und sich selbst zu verwöhnen? Könnte man ihm mehr Raum geben oder meldet sich dann einer, der meint, es könne gefährlich sein oder einem nicht zustehen, es sich zu gut gehen zu lassen?

Unsere Freiheit liegt wieder in diesem kleinen Moment der Achtsamkeit zwischen dem Auftauchen eines Impulses und seiner Umsetzung. Bemerke ich den Impuls, nach einem Stück Schokolade oder einem Kartoffelchip zu greifen oder wache ich erst dann erschreckt auf, wenn die Tafel Schokolade verschlungen oder die Packung mit den Chips geleert ist? Achsamkeit ist die Voraussetzung dafür, die verschiedenen Arten von Hunger und Bedürfnisse zu unterscheiden und sich entsprechend zu verhalten. Achtsamkeit kann uns somit schützen etwas zu uns zu nehmen, was nicht dem eigentlichen Bedürfnis entspricht. Während des Essens immer wieder inne zu halten ermöglicht zu bemerken, wenn man gesättigt ist. So kann man immer wieder für sich selbst einschätzen, zu wieviel Prozent die einzelnen Arten von Hunger noch wahrnehmbar sind. Nach dem letzten Bissen können wir der Sättigung nachspüren und sie schlicht und einfach genießen.

Ein wacher innerer Beobachter eröffnet die Wahlmöglichkeit, den Autopiloten essen zu lassen und dabei nachzudenken, die Zeitung zu lesen oder dem Fernsehfilm zu folgen oder aber zumindest immer wieder für ein, zwei Bissen mit aller Aufmerksamkeit ganz beim Essen zu sein. Achtsam essen bedeutet nicht unbedingt langam zu essen, eine Verlangsamung ist allerdinsg eine häufige meist erwünschte Folge der Achtsamkeit beim Essen.

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