Mitgefühl

Aus Buddhistischer Sicht ist Mitgefühl einer von “Vier Himmlischen Verweilzuständen”. Mitgefühl entfaltet seine heilsame Wirkung erst dann, wenn es mit Wohlwollen, (Mit)Freude und Gleichmut/Gelassenheit einhergeht (vgl. Wetzel 2014, S 80).

Die vier “Himmlichen Verweilzustände”

Clara Strauss (2016) gibt gemeinsam mit ihrer internationalen Forschergruppe einen Überblick über die Vielfalt der unterschiedlichen Definitionen von Mitgefühl (compassion). Diese Definitionen betonen im wesentlichen 5 Elemente:

  1. Das Wahrnehmen und Erkennen von Leiden
  2. Das Erkennen der Universalität von Leiden
  3. Emotionale Resonanz
  4. Toleranz gegenüber unangenehmen Erfahrungen
  5. Motivation zu handeln, um das Leiden zu verringern

Definitionen

  1. Sich durch das Leiden von anderen bewegen lassen – verbunden mit dem Wunsch, zu helfen (“Being moved by another’s suffering and wanting to help”, Lazarus 1991, p 289)
  2. Offenheit gegenüber dem Leiden anderer – verbunden einem inneren Engegement dafür, es zu lindern (“An openness to the suffering of others with a commitment to relieve it”, Dalai Lama 1995). Die Buddhistischen Konzepte betonen auch die kognitiven Komponenten des Mitgefühls wie die Fähigkeit, sich in die Erfahrung anderer hineinzuversetzen und sie zu verstehen und eine tolerante und nicht beurteilende Haltung gegenüber den Leidenden.
  3. Sich vom Leiden anderer berühren lassen, ein gegenüber dem Leiden anderer offenes Gewahrsein, d.h. deren Leiden nicht zu vermeiden und sich nicht davon abzuschneiden, sodass sich ein Wohlwollen gegenüber anderen entwickelt und der Wunsch, das Leiden zu verringern. Es enthält auch ein nicht bewertendes Verstehen gegenüber jenen, die scheitern oder Fehler machen. (“Being touched by the suffering of others, opening one’s awareness to others’ pain and not avoiding or disconnecting from it, so that feelings of kindness towards others and the desire to alleviate their suffering emerge. It also involves offering non-judgmental understanding to those who fail or do wrong”, Neff 2003, p 86–87)
  4. Mitgefühl besteht aus drei Facetten: Bemerken, Empfinden und Antworten (“Compassion consists of three facets: Noticing, feeling, and responding”, Kanov et al 2006)
  5. Ein tiefes Gewahrsein des Leidens anderer verbunden mit dem Wunsch, es zu lindern (“A deep awareness of the suffering of another coupled with the wish to relieve it”, Gilbert 2009, p 13). Mitgefühl besteht aus sechs Attributen: Sensibilität, Sympathie, Empathie, Motivation/Fürsorge, Distress-Toleranz und Nicht-Bewerten (“Compassion consists of six ‘attributes’: Sensitivity, Sympathy, Empathy, Motivation/Caring, Distress Tolerance, and Non-Judgement”)
  6. Jenes Gefühl, das entsteht, wenn man Zeuge des Leidens anderer wird, und das in der Folge dazu motiviert, zu helfen (“The feeling that arises in witnessing another’s suffering and that motivates a subsequent desire to help”, Goetz et al 2010, p 351)
  7. Eine Orientierung des Geistes, die den Schmerz und die Universalität von Schmerz in der menschlichen Erfahrung erkennt, verbunden mit der Fähigkeit, diesem Schmerz mit Wohlwollen, Einfühlung, Gleichmut und Geduld zu begegnen (“An orientation of mind that recognises pain and the universality of pain in human experience and the capacity to meet that pain with kindness, empathy, equanimity and patience” (Feldman & Kuyken 2011, p 145)
  8. Mitgefühl beinhaltet drei Elemente: Wohlwollen, Achtsamkeit und verbindende Menschlichkeit (“Compassion involves three elements: Kindness, mindfulness, and common humanity”, Pommier 2010)

Wir verspüren echte Sorge, weil jemand anderer leidet, und haben den Wunsch, etwas zu tun, damit es ihm wieder besser geht. Mitgefühl hilft uns außerdem dabei, auf unser eigenes Leiden und das von anderen auf geeignete Weise zu reagieren. Und schließlich ist Mitgefühl bemerkenswerterweise auch der Ausweg aus den schädlichen Aspekten der Grat-Zustände, also heraus aus pathologischem Altruismus, empathischem Stress, moralischem Leiden, Respektlosigkeit und Burnout. Weshalb? Weil Mitgefühl wie keine andere Reaktion unsere besten menschlichen Fähigkeiten weckt: ausgewogene Aufmerksamkeit und Fürsorge, selbstlose Intention und Einsicht sowie ethisches Handeln.

Halifax (2019) Gratwanderung: Achtsame Ethik für ein nachhaltig bewusstes Leben

Drei Formen des Mitgefühls

  1. Referentielles Mitgefühl – richtet sich auf andere Personen oder leidende Wesen
  2. Auf Einsicht gegründetes Mitgefühl – ist eher gedanklicher Natur. Es kann beispielsweise erwachsen aus Einsichten über die Unbeständigkeit unseres Lebens und das bedingte Entstehen. Konzept das auch im tibetischen Buddhismus existiert
  3. Nichtreferentielles oder universelles Mitgefühl – richtet sich nicht auf ein spezielles Objekt

Quelle: Soseki M (2015) Dialogues in a Dream

Schritte zur Praxis von Mitgefühl

  1. Aufmerksamkeit sammeln: Innehalten und verankern im Körper etwa beim Atem oder bei einem Satz oder einem Objekt. Aus diesem Schritt entsteht Präsenz.
  2. Intention: Erinnern an die Intention etwa an die Verpflichtung, mit Integrität zu handeln, und die Integrität derer zu respektieren, denen wir begegnen; an die Intention, anderen zu dienen und unser Herz für die Welt zu öffnen.
  3. Einstimmung: Zunächst Einstimmung auf das eigene körperliche, emotionale und kognitive Erleben und dann auf das Erleben des anderen.
  4. Erwägen was hilfreich ist: Sich fragen, was ist hier ein weiser, mitfühlender Weg? Was ist eine angemessene Reaktion? Zur Beantwortung dieser Frage nutzen wir Fachkenntnis, Wissen und Erfahrung bei gleichzeitiger Offenheit, die Dinge auf neue Weise zu sehen.
  5. Handeln und Abschließen: Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, schließen wir die mitfühlende Intervention bewusst ab, um uns damit unbelastet dem nächsten Moment, dem nächsten Menschen und der nächsten Aufgabe zuwenden zu können. Manchmal ist Würdigung dessen notwendig , was geschehen ist, oder sich selbst und anderen zu vergeben, was nicht gut war.

Joan Halifax beschreibt folgende Sätze, die – innerlich gesprochen – bei der Praxis von Mitgefühl unterstützend wirken können:

Möge ich meine Fürsorge und Präsenz bedingungslos darbieten und mir dabei bewusst sein, dass ich auf Dankbarkeit , Gleichgültigkeit, Ärger oder Angst stoßen kann.

Möge ich Liebe darbieten und mir dabei bewusst sein, dass ich den Lauf des Lebens, des Leidens und des Todes nicht beherrschen kann.

Möge ich die inneren Ressourcen finden, um wahrhaft geben zu können.

Möge ich friedvoll sein und meine Erwartungen loslassen

Möge ich die Dinge so akzeptieren, wie sie sind.

Möge ich meine Grenzen ebenso mit Mitgefühl sehen, wie ich das Leiden von anderen betrachte.

Quelle: Halifax (2019) Gratwanderung: Achtsame Ethik für ein nachhaltig bewusstes Leben

Mythen zu Mitgefühl

  • Mitgefühl und Selbstmitgefühl ist (nur) etwas für Buddhisten, Hippies und Esoteriker
  • Mitgefühl und Selbstmitgefühl ist etwas für Schwächlinge
  • Mitgefühl und Selbstmitgefühl sind dasselbe wie Mitleid und Sebstmitleid
  • Mitgefühl und Selbstmitgefühl sind (Selbst-)Verwöhnung
  • Mitgefühl und Selbstmitgefühl sind dasselbse wie Selbstverliebtheit
    • nach Diedrich 2016

Neurobiologie des Mitgefühls

Dass sich Mitgefühl von Mitleid und Empathie unterscheidet, zeigen auch die Aktivierungsmuster im Gehirn (Von der Empathie zum Mitgefühl in einem neurowissenschaftlichen Labor, Artikel von Matthieu Ricard)

Mitgefühlsmüdigkeit

Im Zusammenhang von therapeutischer Arbeit mit traumatisierten Menschen wurde das Phänomen der Mitgefühlsmüdigkeit (Compassion Fatigue) beschrieben. Da sich das Verständnis von “Mitgefühl” im Begriff der Mitgefühlsmüdigkeit wesentlich vom buddhistischen Verständnis unterscheidet wurde vorgeschlagen, das Phänomen besser als “Empathiemüdigkeit” oder “Anhanftungsmüdigkeit” zu bezeichnen.

Videos

Mitgefühlsbasierte Interventionsansätze

Literatur

  • Brink E & Koster F (2013) Mitfühlend leben: Mit Selbst-Mitgefühl und Achtsamkeit die seelische Gesundheit stärken: Mindfulness-Based Compassionate Living – MBCL. München: Kösel
  • Diedrich A (2016) Mitgefühlsfokussierte Interventionen in der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe
  • Ekman P (2014) Moving Toward Global Compassion. San Francisco: Paul Ekman Group
  • Feldman C, Kuyken W (2011) Compassion in the Landscape of Suffering. Contemporary Buddhism 12(1): 143–155 [pdf download]
  • Gilbert P (2009) The Compassionate Mind: A New Approach to Life’s Challenges. London: Constable and Robinson
  • Gilbert P (2011) Mitgefühl. Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein zu lassen. Freiburg/B.: Arbor
  • Gilbert P (2013) Compassion Focused Therapy. Paderborn: Junfermann
  • Goetz JL, Keltner D, Simon-Thomas E (2010) Compassion: An Evolutionary Analysis and Empirical Review. Psychological Bulletin 136(3): 351–374. [PubMed]
  • Gottschlich M (2007) Medizin und Mitgefühl. Die heilsame Kraft empathischer Kommunikation. Wien: Böhlau
  • Halifax J (2019) Gratwanderung: Achtsame Ethik für ein nachhaltig bewusstes Leben. München: OW Barth
  • Kanov JM, Maitlis S, Worline MC, Dutton JE, Frost PJ, Lilius JM (2004) Compassion in Organizational Life. American Behavioral Scientist 47(6): 808–827. DOI: 10.1177/0002764203260211
  • Lazarus RS (1991) Emotion and Adaptation. Oxford: Oxford University Press
  • Neff KD (2003) The Development and Validation of a Scale to Measure Selfcompassion. Self and Identity 2(3): 223–250 [pdf download]
  • Pommier E A (2010) The Compassion Scale (Order No. 3445994)(Available from ProQuest Dissertations & Theses Global 855633530)
  • Reddemann L, Wetzel S (2017) Mögen alle Wesen glücklich sein. Mitgefühl und Gerechtigkeit neu entdecken. Ostfildern: Patmos
  • Singer T & Bolz M (Hrsg) Mitgefühl in Alltag und Forschung. eBook entstanden anlässlich eines Workshops „How to train Compassion“ in Berlin 2011[download]
  • Strauss C, Lever Taylor B, Gua J, Kuyken W, Baer R, Jones F, Cavanagh K (2016) What is Compassion and How Can We Measure it? A Review of Definitions and Measures. Clinical Psychology Review 47: 15–27. DOI: 10.1016/j.cpr.2016.05.004
  • Wetzel S (2014) Achtsamkeit und Mitgefühl. Mut zur Muße statt Hektik und Burnout. Stuttgart: Klett-Cotta
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